Reproduktionsmedizin – Wie privat ist das Private?

Was ist heute eigentlich noch privat? Verlieben? Liebe machen? Ein Kind auf die Welt bringen? Sich trennen? Haben wir alles schon im Fernsehen gesehen. Dank unzähliger Reality Shows weiß ich, wie es bei anderen zuhause aussieht, was sie kochen, wie sie ihre Kinder erziehen und wie sie sich anstellen, wenn sie sich durch ekliges Getier wühlen müssen. Ich sehe Menschen voller Hoffnung einen Fremden heiraten und ich sehe dabei zu, wie sie sich von einem Mann in eine Frau und umgekehrt verwandeln. Wann ist es voyeuristisch und wann ist es informativ? Wo soll man da noch eine Grenze setzen? Beim Schweizer Sender SRF 1 durfte ich nun einem Paar bei einer künstlichen Befruchtung zusehen. Ist der Akt der Zeugung zu intim für das Fernsehen? Oder hilft es den Paaren, die sich so sehnlich ein Kind wünschen?

Der lange Weg zum Wunschkind

Diese Reportage ist nicht voyeuristisch aufgezogen. Dafür ist sie viel zu sachlich, viel zu unspektakulär für den Sensationsgucker. Und ehrlich gesagt auch etwas schwer verständlich für den deutschen Zuschauer, der des schwyzerdütsch nicht mächtig ist. Wie ich zum Beispiel. Stattdessen gibt sie Einblicke in die Reproduktionsmedizin und erzählt von den Hoffnungen und Ängsten der Betroffenen. Und davon gibt es viele. In Deutschland sind 10 bis 20% der Paare im gebärfähigen Alter von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von Störungen der Ovarialfunktion bis hin zur sexuellen Funktionsstörung. Sie liegen zu je 40% beim Mann bzw. der Frau und in 15% der Fälle bei beiden Partnern. Bei 5% ist gar keine Ursache erkennbar. Und je älter ein Paar bei der Zeugung ist, desto schwieriger wird es, da mit zunehmendem Alter Fruchtbarkeit und Zeugungsfähigkeit sinken. Was im Klartext heißt, dass in unserer Gesellschaft mit stetig steigenden Spätgeburten immer mehr Menschen von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sein werden.

1978 kam das erste im Reagenzglas gezeugte Baby auf die Welt. Ich kann mich noch gut an den Aufruhr erinnern. Das war futuristisch und machte vielen Menschen deshalb auch Angst. Klonen war das große Stichwort. Wenn künstliche Befruchtung möglich ist, wie lange würde es dauern, bis die ersten Menschen geklont würden? Mit diesem Thema setzt sich die kanadische Science-Fiction-Serie „Orphan Black“ auseinander. Seit damals ist die gesellschaftliche Akzeptanz für die Reproduktionsmedizin jedoch stark gestiegen. Hoffnung statt Zukunftsangst. Trotzdem ist das kein Thema, über das beim Essen mit Freunden gesprochen wird. Zu groß ist der emotionale Stress, unter dem die Paare stehen. Davon wird in der Reportage nicht gesprochen. Bis zu dem ersten von drei Versuchen, den die Krankenkassen in Deutschland verheirateten Paaren zahlen, muss erst ein Jahr vergehen – in Großbritannien sogar zwei-, in dem trotz regelmäßigen ungeschützten Verkehrs keine Schwangerschaft entsteht.

Der Druck ist enorm. Zuerst wird aus der Lust Sex nach Fahrplan, immer schön um die fruchtbaren Tage herum. Eisprung, ab ins Bett. Da gibt es auch schon einmal Anrufe im Kommandoton: Mann, komm sofort nach Hause, du musst ran, ich habe meinen Eisprung! Die Betroffenen haben das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. Und mit jeder Regelblutung steigt der Stress. Dazu kommen häufig Kommentare aus dem Umfeld, die aufmunternd wirken sollen, aber das Gegenteil bewirken: „Beim nächsten Mal klappt es bestimmt“, „Nehmt es doch nicht so schwer, ein Leben ohne Kinder ist auch möglich.“ Das stimmt zwar, steht aber gerade nicht zur Diskussion. Also redet man lieber nicht darüber. Hier muss die gesellschaftliche Akzeptanz auch ansetzen. Mitgefühl und Verständnis, zusätzlich zur medizinischen Komponente psychosoziale Unterstützung.

Die andere Seite der Reproduktionmedizin

Aber auch aus einer anderen Richtung rückt die künstliche Befruchtung in den Fokus der Öffentlichkeit. Leider nicht zu ihrem Vorteil, befürchte ich. Denn es ist nicht so, dass sich nur Paare der Prozedur unterziehen, bei denen eine Unfruchtbarkeit nachgewiesen ist. Wer über das nötige Kleingeld verfügt, greift schon mal aus reiner Bequemlichkeit darauf zurück. Prominentestes Beispiel ist Angelina Jolie, die sich Medienberichten zufolge nicht dem Stress der natürlichen Zeugung aussetzen wollte und auf diese Weise Zwillinge gebar. Vielleicht steckte aber auch ihre Angst vor dem diagnostizierten Eierstockkrebs-Risikos dahinter. Immerhin hatte sich Jolie 2013 wegen ihres hohen Brustkrebs-Risikos beide Brüste abnehmen lassen. Apropos Zwillinge. Das ist ja auch so eine Sache. Zwillinge, Drillinge bis hin zu Achtlingen hat die Reproduktionsmedizin schon geschaffen. Immer wieder ein gefundenes Fressen für die Medien.

Zudem sorgen Unternehmen wie Apple und Facebook für Aufsehen, weil sie ihren Mitarbeiterinnen anbieten, die Kosten für das Einfrieren von Eizellen zu übernehmen. Das soll den Frauen die Möglichkeit bieten, sich zumindest im Moment noch nicht für ein Kind entscheiden zu müssen. Sichergestellt werden soll damit natürlich, dass die Mitarbeiterinnen ihre ganze Energie auf ihren Job richten und nicht auf ein Baby. Auf den ersten Blick ist es ein Angebot, auf den zweiten Blick ist es ein Dilemma. Denn was ist mit den Frauen, die jetzt sofort ein Kind möchten? Hat sich das Einfrieren erst einmal etabliert, könnte das als ein Zeichen von Illoyalität gewertet werden. Und was, wenn es mit der Befruchtung später nicht mehr klappt? Wo bleibt das Private, wenn sich der Arbeitgeber in die Zeugung einmischt? Ein prima Thema für die nächste Science Fiction-Serie und ein Thema, das uns noch viel beschäftigen wird.

Veröffentlicht auf https://www.orion.de/blog/reproduktionsmedizin-wie-privat-ist-das-private/

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