Vierlinge mit 65 Jahren – Der Versuch einer Erklärung

Heute morgen beim Bäcker sprang mich folgende Schlagzeile an: „Berliner Lehrerin – Ich bin 65 und erwarte Vierlinge“. Die Bäckersfrau interpretierte meinen Gesichtsausdruck als entgeistert statt begeistert und hielt mit ihrer Meinung auch nicht hinterm Berg. „Wenn die Kinder 20 Jahre alt sind, dann ist die Mutter 85!“ Gut gerechnet, und sicherlich ist das auch ein Gedanke, der vielen Menschen beim Lesen dieser Schlagzeile als erstes in den Sinn schießen wird. Ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse, die die Schwangerschaft nun auch bis zur Geburt begleiten will.

Das Alter der Mutter und die Vierlinge sind für sich genommen schon eine Sensation. Aber das ist noch nicht alles. Die Vierlinge werden bereits 13 Geschwister haben, wenn sie zur Welt kommen. Ihr letztes Baby hat die Lehrerin mit 55 Jahren geboren und war damit auch damals schon in den Schlagzeilen. Was treibt eine vielfache Mutter dazu, so spät unbedingt noch einmal schwanger werden zu wollen? Und warum bin ich eigentlich so angetan von der Schlagzeile? Die Frage zumindest kann ich leicht beantworten: Weil ich jetzt endlich den richtigen Aufhänger für meinen Artikel über die weibliche Form der Perversion, die Reproversion, gefunden habe. Also, los geht’s.

Die Macht der Perversion

Jetzt wird es erst einmal etwas theoretisch. Verdrängte oder verheimlichte Schwangerschaften, Kindstötungen, ausgesetzte Neugeborene, Babyraub, Großmütter, die für ihre Töchter Babys austragen, eine außergewöhnlich hohe Anzahl an Geburten – das alles sind Störungen der sexuellen Fortpflanzung. Dr. Jens Wessel vom Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité hat sich in mit dieser Thematik im Besonderen auseinandergesetzt. Im Gegensatz zu den bekannteren Funktionsstörungen wie Lustlosigkeit, vorzeitigem Samenerguss, Störungen der Geschlechtsidentität und der sexuellen Präferenz sind diese weit weniger bekannt. Perversionen, also Störungen der sexuellen Präferenz wie Voyeurismus, Exhibitionismus und Fetischismus spielen bei Männern eine große Rolle, wenn es um die Bewältigung von Grundkonflikten geht. Früher erlebte Situationen der Demütigung, Angst und Verzweiflung werden immer wieder neu inszeniert.

Schaut man im therapeutischen Setting genau hin, kann man die ganze Geschichte aufdecken. Perversionen sind „eine schöpferische, kompensatorische, das psychische Gleichgewicht wiederherstellende Leistung des Ichs“. Abhängigkeit und Hilflosigkeit werden in dem Moment der sexuellen Handlung scheinbar überwunden. Perversionen haben für die einzelne Person also durchaus einen Sinn, sind eine Art Selbstheilungsversuche. Und sie müssen einem ganz genauen Drehbuch folgen, um ihre ganze Kraft zu entfalten.

Was aber macht eine Frau, die unter diesem Druck steht, die ihren Konflikt ungelöst in sich trägt? Weibliche Täterinnen finden sich unter Exhibitionisten beispielsweise äußerst selten. Im Gegensatz zu Männern habe ich noch keine Frau im Gebüsch stehen sehen, die mir ihren nackten Unterleib entgegenreckte. Und selbst wenn sie es so machte, würde sie weniger Gefahr laufen, angezeigt zu werden. Schon deshalb rücken Frauen ungleich seltener in das Blickfeld der Justiz. Vielleicht ist ihr Leidensdruck geringer, da sie ihre Perversion unauffälliger ausleben kann. Welcher Mann freut sich nicht über eine vorzeigelustige Dame, die ausgiebig ihre Genitalien präsentiert?

Konfliktlösung über die eigene Fruchtbarkeit

Für Frauen gibt es aber noch einen anderen Weg. Sie verlagern das innere Konfliktgeschehen von den äußeren Genitalien auf die inneren, also auf ihre Fortpflanzungsorgane. Prof. Dr. Beier von der Berliner Charité hat hier den Begriff der Reproversion vorgeschlagen. Die weibliche Perversion, die sich nicht wie beim Mann auf den Lustaspekt der Sexualität konzentriert, sondern auf den der Fruchtbarkeit, der Reproduktion. Haben wir nun genau so einen Fall bei dieser 65-jährigen Mutter? 13 Kinder sind schon da und trotzdem nimmt sie im Ausland mehrfach die Mühen der künstlichen Befruchtung auf sich. Wer sich vier Embryonen einpflanzen lässt, in diesem Fall übrigens aus fremden Eizellen gezeugt (in Deutschland ist dieses Vorgehen durch das Embryonengesetz verboten), und damit das Risiko einer Mehrfach-Geburt auf sich nimmt, wird von einem großen inneren Druck getrieben. Doch woher kommt dieser Druck?

Welche Beweggründe genau dahinter stecken, können wir nur spekulieren. Da ist eine Frau, die um jeden Preis weit jenseits des natürlichen gebärfähigen Alters noch mehr Kinder haben möchte, als sie ohnehin schon hat. Bei diesem extremen Kinderwunsch liegt es nahe, dass es hier einen inneren nach Bewältigung schreienden Konflikt gibt. Die Lehrerin ist bereits Großmutter und könnte die Freuden jederzeit wieder abgebbarer Enkel genießen. Aber nein, hier werden bewusst körperliche und psychische Grenzen ignoriert, mal ganz abgesehen vom Kindeswohl. Und wie groß sind die Chancen, dass die Babys gesund sind und diese besondere Risikoschwangerschaft überstehen? Und was ist mit der Mutter? Wir reden hier von VIER Babys, nicht von einem. Den meisten jungen Müttern wachsen schon Zwillinge über den Kopf. Diese Mutter wird über 70 sein, wenn die Kinder in die Schule kommen. Wie wird es sich wohl für die Kinder anfühlen, wenn sie sich, als Vierlinge ohnehin schon im Mittelpunkt stehend mit einer bald 80-jährigen Mutter durch die Pubertät kämpfen?

Das Unmögliche verstehen

Vielleicht hat diese Frau selber nie die Erfahrung einer sicheren Bindung erlebt und versucht nun, das auf diese Weise zu kompensieren. Je mehr Kinder sie hat, desto mehr sind von ihrer Liebe abhängig, desto mehr Zuwendung bekommt sie selber. Vielleicht ist ihr Selbstwertgefühl so instabil, dass sie sich nur über den Status der Mutter definieren kann. Vielleicht sind die Kinder eine Art Selbstersatz. Wenn wir eine Schlagzeile wie die obige lesen, lohnt es sich jedenfalls, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, bevor wir uns echauffieren. Denn hier scheint sich beispielhaft der Selbstheilungsversuch eines inneren Konfliktes zu zeigen. Alle Bedenken werden über Bord geworfen, es geht einzig um das emotionale Wohl der Mutter. Hier zeigt sich die weibliche Form der Perversion. Das moralisch zu beurteilen, steht mir nicht zu. Aus ethischer Sicht ist diese Schwangerschaft jedenfalls äußerst zweifelhaft. Und wie sieht das die Lehrerin? „Wer sagt eigentlich, dass ich mit 65 nicht Mutter werden kann?“

Veröffentlicht auf https://www.orion.de/blog/vierlinge-mit-65-jahren-der-versuch-einer-erklaerung/

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