Blue Viagra, Pink Viagra – Der bunte Reigen der chemischen Aphrodisiaka

Stellt euch vor, ihr liegt im Bett und nichts geht: Er bekommt keine Erektion und sie hat keine Lust. Wenn es nach der Pharmaindustrie ginge, gehören Szenarien dieser Art bald der Vergangenheit an. Denn neben Viagra für den Mann soll es jetzt auch die Lustpille für die Frau geben. Allerdings erst einmal nur in den USA, wo man sich nach zwei Ablehnungen dann doch dazu entschieden hat, das Mittel Flibanserin, auch Pink Viagra genannt, auf den Markt zu bringen. Seit Jahren wird an dieser Pille geforscht, soll sie doch Abhilfe bei einem der größten Probleme in der menschlichen Sexualität schaffen – der weiblichen Unlust. Millionen von Frauen, so heißt es, leiden darunter. Wie immer, wenn es um Sexualität geht, schwanken die Zahlen erheblich. Eine deutsche Studie kam 2013 nach der Befragung von 4500 Frauen auf 15%, in anderen Studien sind es bis zu 40%. Der Markt ist also groß und die Unternehmen hoffen auf satte Gewinne. Aber wie wirkt dieses neue Medikament und kann es tatsächlich helfen?

Ein Antidepressivum für mehr Lust

Der direkte Vergleich zwischen Flibanserin und Viagra hinkt, denn die Wirkungsweise ist eine völlig andere. Während Mittel wie Viagra, Cialis und Levitra bei sexueller Erregung – und die ist hier tatsächlich Grundvoraussetzung für den Erfolg – eine stärkere und dauerhaftere Erektion bewirken, soll Flibanserin als eine Art Aphrodisiakum die Lust überhaupt erst wecken. Während ein Mann seine Pille direkt vor dem angestrebten Geschlechtsverkehr einnimmt und die Dauer der Wirkung begrenzt ist, wird eine Frau ihre Pille täglich einnehmen müssen.

Im Gegensatz zu Viagra ist Flibanserin kein Medikament, das sich lokal auf die körperliche Reaktion beschränkt, stattdessen verändert es den Hormonhaushalt grundlegend. Ursprünglich als Antidepressivum entwickelt, wird der Serotoninspiegel gesenkt und die Konzentration von Dopamin und Noradrenalin erhöht. Das soll stimmungsaufhellend wirken, die lustfördernde hat sich erst später herausgestellt. Mit den Nebenwirkungen ist wie bei allen Antidepressiva nicht zu spaßen – Schwindel, Müdigkeit, Übelkeit, Schlaflosigkeit, Angstzustände, Verstopfung usw.

Lust und Lustlosigkeit – Die zwei Seiten der Medaille

Gut, könnte man meinen, wenn ich dann wieder Lust auf Sex bekomme, nehme ich die Nebenwirkungen in Kauf und schlucke diese Pille. Es könnte ja so einfach sein. Was aber genau verbirgt sich denn eigentlich dahinter, wenn eine Frau über einen längeren Zeitraum keine Lust auf Sex hat? In der Sexualmedizin spricht man von mangelnder „sexueller Appetenz“. Die möchte ich gern mit unserem Appetit vergleichen. Der ist manchmal kaum zu bändigen und manchmal fehlt er völlig. Von beiden Zuständen kann ich ein Lied singen.

Zu einem Problem wird das erst, wenn ein Leidensdruck entsteht. Entweder ich kann nicht aufhören zu essen und an Essen zu denken oder ich verweigere mich der Nahrungsaufnahme, weil mir nichts mehr schmeckt. Manchmal liegt es auch an meinen eigenen oder an den Kochkünsten meines Gegenübers oder einfach auch am Stress, den ich gerade habe, dass mir der Appetit vergeht. Und genauso ist es auch mit der sexuellen Appetenz. Die verändert sich im Laufe des Lebens, ist abhängig von der Lebenssituation und außerdem auch noch bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Manchmal hört es sich so an, als müsste Lust immer da sein, als wäre sie eine Art Grundrecht. Dem ist jedoch nicht so.

Wenn es in der Partnerschaft Probleme gibt, sexuelle Wünsche auf Dauer nicht erfüllt werden, der Job stresst, die Kinder alle Aufmerksamkeit beanspruchen, die Qualität des Partners als Liebhaber nicht ausreicht, die Erwartungen viel zu hoch sind, ist es eigentlich nicht verwunderlich, wenn die Lust darunter leidet. Und so sind sexuelle Funktionsstörungen immer auch Paarprobleme. So unangenehm es auch ist – an der Seite einer lustlosen Frau kann sich ein Mann ganz besonders potent fühlen. Sollte sich die Situation aber ändern und die Frau wieder Lust bekommen, passiert es in nicht wenigen Fällen, dass nun der andere Partner eine Funktionsstörung entwickelt.

Als Viagra auf den Markt kam, wurde so manche Frau sehr zu ihrem Missfallen zuhause freudestrahlend mit einer Erektion überrascht. Froh, durch die Erektionsstörung endlich den unerfreulichen Akt des Geschlechtsverkehrs hinter sich gebracht zu haben, wartete mit Viagra nun neues Ungemach im Schlafzimmer. Besser wäre es gewesen, hätte sich der Mann mit den Bedürfnissen seiner Frau auseinandergesetzt und seinen sexuellen Horizont über den Geschlechtsverkehr hinaus erweitert.

Reden statt Chemie

Es wäre tatsächlich ganz einfach, wenn Lustlosigkeit biologischer Natur wäre. In dem Fall scheint Flibanserin auch tatsächlich zu helfen. In allen anderen Fällen stecken andere Gründe dahinter. Die gilt es aufzuschlüsseln, wenn man die Lust wiederbeleben möchte. Die Frage ist also, worauf genau eine Frau keine Lust hat und ob man da nicht Abhilfe schaffen kann. Ja, ich weiß, reden ist nicht alles. Und manchmal lässt sich eine Lebenssituation auch nicht verändern. Aber wer nicht über seine Bedürfnisse spricht, kann kaum erwarten, dass sie erfüllt werden.

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