Absolute Beginner: Unerfahrenheit ist kein Weltuntergang

An wen denken wir, wenn wir „Das erste Mal“ hören? Normalerweise wohl zuerst an Jugendliche. Und dabei erinnern wir uns vielleicht an unser eigenes erstes Mal – die einen schmunzeln dabei, die anderen verziehen das Gesicht. Denn so einfach war das oft gar nicht. Zwei Menschen, oder zumindest einer, ohne intime Erfahrungen. Körperflüssigkeiten wurden zwar zumeist durchaus im Vorwege ausgetauscht. Nur der letzte Schritt, das Durchstoßen des auch nicht immer vorhandenen Jungfernhäutchens, fehlte dann noch. Woran wir nicht denken ist, dass es heute eine stetig wachsende Zahl von Menschen jenseits des Jugendalters gibt, bei denen es nicht nur um den letzten Schritt geht, sondern um das gänzliche Fehlen von zweisamen Erfahrungen. Und das im körperlichen wie im emotionalen Sinne. Aber wie geht man damit um, wenn man dann jemanden kennenlernt? Darüber reden? Schweigen?

Falsche Vorstellungen führen zu überzogenem Erwartungsdruck

In unserer übersexualisierten Gesellschaft scheint es ein großes Stigma zu sein, wenn man ab einem bestimmten Alter noch nicht intim mit einem anderen Menschen war. Von außen betrachtet scheint jeder andere bereits reichliche Erfahrungen gesammelt zu haben, nur man selber nicht. Besonders bedenklich finde ich, dass sich in den Internet-Foren bereits sehr junge Menschen mit dieser Frage beschäftigen. „Hilfe, ich bin 18 und noch Jungfrau!“ oder „Ist es ok, wenn man das erste Mal Sex mit einer Prostituierten hat“ – das sind Fragen, die mich auch in meiner Arbeit erreichen. Gemach, gemach, sage ich da. Der Druck ist groß und es ist wichtig, die Fragenden zu erleichtern, zu erklären, dass mit ihnen alles ganz in Ordnung ist.

Es gibt keine verlässlichen Daten darüber, wie viele Menschen wann genau ihre Unschuld verlieren. Fakt ist aber, dass es nicht wenige sind, die eben etwas länger brauchen und erst mit 30, 35 oder 40 Jahren ihre erste Beziehung starten. Jeder hat ein eigenes Tempo, in dem er oder sie Erfahrungen sammelt. Und es ist gerade die junge Generation, die heute körperliche Intimität in einer Beziehung erleben möchte und weg ist vom reinen „es hinter sich bringen“. Das Bild, das die Medien, hier insbesondere die Pornografie, vermitteln, stimmt nicht mit der Realität überein. Und dass Menschen, die bereits Beziehungen hinter sich haben, auch nicht immer erfahrener sind – darüber wird nicht gesprochen.

Die amerikanische Anthropologin Helen Fisher hat in ihren Studien festgestellt, dass 42% der Menschen es ablehnen würden, eine Jungfrau zu daten. Hier darf man aber nicht Äpfel mit Birnen vergleichen und so möchte ich gleich lauthals protestieren. Denn in den USA ist es fast eine Art Trend, sich bis zur Ehe aufzubewahren. Dies wird dann auch öffentlich kundgetan. Es gibt regelrechte Zeremonien wie die Purity Balls, auf denen junge Mädchen vor den Augen ihrer Väter Keuschheitsgelübde ablegen. Und dafür gibt es durchaus Gleichgesinnte auf beiden Seiten – Frauen wie Männer. Alle anderen hingegen möchten die Katze nicht im Sack kaufen. Hüben wie drüben möchten wir den anderen kennenlernen, bevor wir uns endgültig binden. Wir ziehen zusammen, erkunden jede Region unseres Körpers und unserer Lust, bevor wir uns das Ja-Wort geben. „Slow Love“, so nennt Helen Fisher diese Art der Annäherung.

Bestimm Dein eigenes Tempo

Bei uns geht es nicht um die Menschen, die nicht wollen, sondern um diejenigen, die sehr wohl wollen, aber noch nicht konnten. Menschen, die durchaus eine intime Beziehung eingehen möchten und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, wenn sie jemanden kennenlernen. Wie so oft gibt es keine Patentlösung für diese Frage. Dafür sind wir Menschen viel zu unterschiedlich und die Gründe für die bisherige Erfahrungslosigkeit ebenso. Jeder muss für sich selber entscheiden, welche Informationen er oder sie wann geben möchte. Sicherlich ist das kein Thema für das erste Treffen.

Alte oder nicht vorhandene Beziehungen müssen auch nicht gleich durchgekaut werden. „Lass uns darüber später reden“ verschafft Zeit und Raum, den anderen erst einmal kennenzulernen. Je größer die Vertrauensbasis und je sicherer ich mir bin, dass der andere zu mir passen könnte, desto eher kann ich mich auch öffnen. Und es ist ja auch nicht so, dass alle anderen direkt übereinander herfallen! Allen, die jetzt mit sich hadern, möchte ich an dieser Stelle sagen, dass jede intime Beziehung anders ist, dass jeder Mensch anders ist und anders empfindet und dass es auch jede Menge Menschen gibt, die bei jedem ersten Mal mit einem neuen Partner aufgeregt sind und nicht wissen, was sie erwartet. Das gehört einfach dazu und macht die ganze Sache immer wieder spannend.

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