Den Sex vermessen – Geht das eigentlich?

Nackte Tatsachen und harte Fakten – das wünschen sich die meisten gerade im Bereich der Sexualität. Aber was sagen die Zahlen denn eigentlich aus? Sind sie allgemeingültig und unumstößlich? Und wie kommt es dazu, dass manche Zahlen so schwanken? Und warum ist es gerade in der menschlichen Sexualität überhaupt so schwer, verlässliche Zahlen zu erheben?

  • 69% aller Frauen kommen bei sexuellen Begegnungen zum Orgasmus.
  • Für 96% der 20- bis 30jährigen Frauen bedeutet Oralsex einen höheren Lustgewinn als einfacher Geschlechtsverkehr.
  • Für 90% aller Frauen ist die Härte des Penis wichtiger als seine Länge.
  • 80% aller Männer kaufen Kondome in der falschen Größe.
  • Die Deutschen haben im Jahr 120 Mal Sex.
  • 17,8% aller Männer leiden unter Erektionsstörungen.
  • 70% aller Außenbeziehungen werden mit Eheproblemen begründet.

Liest sich gut, oder? Das sind alles Zahlen, die ich hier und da gefunden habe, in Zeitschriften, Fachbüchern, Studien von Unternehmen und wissenschaftlichen Studien. Die einen hören sich gut an, die anderen erschrecken ein wenig. Zwei Drittel aller Frauen bekommen also einen Orgasmus, wenn sie Sex haben. Nicht schlecht. Aber wie wird eine „sexuelle Begegnung“ definiert? Ist da auch Selbstbefriedigung dabei? Und bitte nicht verwechseln mit dem reinen Geschlechtsverkehr, denn hier bekommen zwei Drittel aller Frauen gerade keinen Orgasmus. Laut einer anderen Studie übrigens sogar ganze 96%.

Jeder vierte Mann weiß nicht, welche Kondomgröße für ihn richtig ist? Warum klären wir dann nicht mehr auf? Und haben wir wirklich 120 Mal im Jahr Sex? Also ich nicht. Ihr? Das wären immerhin 2,3 Mal in der Woche. Und dann haben wir ja auch noch 11 Millionen Singles in Deutschland. Und die haben allen Vorurteilen entgegen kaum bis gar keinen Sex. Haben dann Paare entsprechend mehr? Und wann genau sprechen wir von einer Erektionsstörung? Nach einem Mal? Nach hundert Malen? Eheprobleme als Hauptfaktor für das Fremdgehen? Dann müssten doch Eheberatungen Hochkonjunktur haben! Und was ist mit unverheirateten Paaren? Welche Gründe haben die? Und warum haben wir überhaupt noch Geschlechtsverkehr, wenn doch fast alle Frauen Oralverkehr als lustvoller empfinden???

Lustvoller Sex unter Laborbedingungen?

Ihr seht schon, die Zahlen werfen mehr Fragen auf, als dass sie etwas erklären. Dazu kommen jetzt noch die Schwierigkeiten mit der exakten Messung. Zwei Drittel versus 96% aller Frauen kommen durch reine Penetration nicht zum Orgasmus. So, Männer, ihr denkt jetzt vielleicht, das kann doch gar nicht sein. Bei mir kommen die Frauen immer zum Höhepunkt. Wirklich? Woran macht ihr das fest? Fragt ihr sie? Nehmt ihr das Stöhnen als eindeutiges Zeichen? Könnt ihr mit Eurem Penis tatsächlich fühlen, wie die Muskeln beim Orgasmus kontrahieren? Gut, wiederholen wir den Versuch unter Laborbedingungen. Schön steril auf der Liege mit den Messgeräten zwischen Penis und Vagina. Hört sich nicht besonders erotisch an? Nö, finde ich auch nicht. Wer aber durch die Apparaturen und das Beobachtet-werden schon abgelenkt ist, wird kaum einwandfrei funktionieren.

Überhaupt „funktioniert“ in der Sexualität niemals etwas nach Plan. Denn sie ist viel mehr als ein unwillkürlicher körperlicher Vorgang. Die individuelle Biographie wie auch ganz allgemeine gesellschaftliche Vorstellungen spielen immer mit hinein in das Erleben. Und nicht immer ist das, was der Körper anzeigt auch das, was ein Mensch tatsächlich fühlt. Man hat in der Vagina gemessen, ob Frauen bei bestimmten Bildern sexuelle Erregung zeigen. Haben sie tatsächlich. Aber auch nur in der Vagina, die Erregung gefühlt haben sie dabei nicht.

Gut, könnte man denken, dann fragen wir die Menschen doch einfach. Aber ob ihr’s glaubt oder nicht, wenn es um Sex geht, wird so viel gelogen wie sonst kaum. Und dann spielen auch noch Wunschdenken und traditionelle Auffassungen mit hinein. Befragt man Paare getrennt voneinander, haben Männer immer mehr Sex als ihre Partnerinnen. Und befragt man Männer mit arabischem Hintergrund, staunt man ob der vielen Zeit, die diese für Sex zu haben scheinen. Aber ist die Häufigkeit von Sex ein Indikator für gutes Gelingen? Für Lust und Befriedigung? Da schütteln auf jeden Fall wir Frauen vehement den Kopf. Nein. Lieber haben wir weniger aber dafür besseren Sex.

Das Gute ist so nah

Wenn wir wirklich wissen möchten, was normal ist, sollten wir weniger auf Zahlen sehen. Denn dann verlieren wir uns selbst aus den Augen. Schauen wir doch in unsere Beziehung! Haben wir dreimal Sex im Monat und sind damit glücklich? Dann ist das normal! Hat einer mal gerade keine Lust, kuschelt aber trotzdem mit dem Partner und damit sind beide zufrieden, ist auch das gut so! Viele sexuelle Probleme sind ohnehin handgemacht. Dank der Bemühungen der Pharma-Industrie wird jede ausbleibende Erektion zum Problem. Natürliche Schwankungen darf es nicht mehr geben. Wir wollen immer 100%: 100% Lust, 100% Funktion, 100% Qualität. Was für einen Druck bauen wir da auf! Genießen wir doch das, was wir haben. Es ist nicht immer das größte und teuerste Auto, das uns glücklich macht. Wenn wir andere Bedürfnisse haben, reicht auch ein Mittelklassewagen oder ein Kleinwagen. Und wenn wir unzufrieden sind, sollten wir uns nicht an dem vermeintlich Normalen, das die anderen haben, festhalten. Die Lösung für unser Problem kann eine ganz andere sein.

 

Veröffentlicht auf https://www.orion.de/blog/das-problem-von-statistiken-ueber-sexualitaet/

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