Es heißt ja mittlerweile bei jeder Gelegenheit, Pornosex sei ganz anders als der echte Sex. Auch ich betone das immer wieder gern. Und es stimmt ja auch. Aber was ist denn eigentlich so anders? Warum ist es anders? Warum kann unser Sex nicht so sein wie im Film? Warum gehört es eben dazu, dass bei unserem Sex nicht immer alles so reibungslos klappt wie im Film? Und warum macht genau das unseren Sex so besonders und so liebenswert?
Der Verständlichkeit halber verwende ich in diesem Beitrag das maskuline Neutrum. Ich schreibe also „Pornodarsteller“ und meine damit Frauen wie Männer. Sonst versteht am Ende keiner mehr, was ich eigentlich sagen will.
Einem Pornodarsteller werden Sexpartner auf dem silbernen Tablett präsentiert. Schließlich warten diese ja schon geschniegelt und gestriegelt am Set darauf, dass es endlich losgeht. Niemand muss sich in dieser Hinsicht weiter anstrengen. Keine Anmache, keine Absage.
Im echten Leben müssen wir erst einmal jemanden finden, der sich mit uns vergnügen möchte.
Kommt es dann doch zu dem gewünschten One Night Stand, haben besonders Frauen schnell ein schlechtes Gewissen. Das schickt sich ja nicht. Schließlich heißt es immer, Frauen bräuchten das ganz große Gefühlskino, um beim Sex etwas zu empfinden. Wer anders denkt, zweifelt schnell an sich. Manchmal hoffen sie auch, einen Mann mit Sex an sich binden zu können.
Männer wiederum haben eher ein schlechtes Gewissen, weil sie glauben, Frauen erwarteten trotz aller vermeintlichen Eindeutigkeit mehr von ihnen. Diese ganzen Gedankenkarusselle können dazu führen, dass der Sex dann doch nicht so hemmungslos ist wie erhofft. Pornodarsteller schlagen sich mit solchen Gedanken nicht herum. Hier geht es um Sex, um Sex und nochmals ums Sex. Niemand erwartet, dass da hinterher noch Telefonnummern oder Gefühlsduseleien ausgetauscht werden. Sie legen einfach los und kümmern sich um nichts außer um ihr Drehbuch.
Natürlich haben auch Pornodarsteller Gefühle. Aber die brauchen sie nicht, um beim Dreh Sex zu haben. Weder müssen sie verliebt sein, noch wird gefragt, ob sie ihr Gegenüber überhaupt attraktiv finden. Und schon gar nicht brauchen sie Liebe, Vertrauen oder Nähe, um es so richtig krachen zu lassen. Sie sind schließlich Profis und Sex ist ihr Business.
Wir hingegen können zwar Sex ohne Gefühle haben und der kann auch richtig gut sein. Die meisten wollen aber dann doch mehr. Sie wollen sich verlieben und die Schmetterlinge Anteil am Liebesspiel haben lassen. Und wenn es in der Liebe knatscht, läuft es auch im Bett nicht mehr. Im echten Liebesleben spielen uns unsere Gefühle gern einen Streich. Wir wollen Lust haben, aber dann überfällt uns plötzlich eine unerklärliche Traurigkeit, wir denken an das leere Bankkonto oder können das Bild der offenen Zahnpastatube im Waschbecken einfach nicht verdrängen. Und schon war es das.
Erinnert Ihr Euch noch an Euer erstes Mal? Oder an die ersten Male?
Und dann kam der lang ersehnte und gefürchtete Moment. Und alles war ganz anders als vorgestellt.
Im Porno gibt es keine Anfänger. Keinem Darsteller fällt die Kinnlade vor Überraschung herunter, keiner starrt fassungslos auf den Körper des anderen. Keine zittrigen Hände, kein Herumgestammel. Es scheint, als wären die Darsteller schon als Profis auf die Welt gekommen.
Erektionsprobleme, keine Lust, Schmerzen oder kein Orgasmus? Fehlanzeige. Im Porno läuft auch in dieser Hinsicht alles reibungslos. Männer wie Frauen wollen immer, können immer und dies auch in jeder erdenklichen Stellung. Das wäre ja auch was, wenn der Darsteller erst einmal Hand anlegen müsste, um seinen Schwanz hart zu bekommen. Oder wenn seine Partnerin ihm vor laufender Kamera erklären würde, dass sie ihre Orgasmen vorspielt.
„Du, findest du meinen Schwanz zu klein?“
„Aber natüüüürlich nicht, wie kommst du denn darauf?! Der ist perfekt!“
Pornodarsteller schlagen sich zumindest vor der Kamera nicht mit derartigen Problemen herum. Und selbst wenn, würden wir es gar nicht mitbekommen. Schließlich reden sie nicht über das, was sie denken. Ganz im Gegenteil scheinen die Darsteller überhaupt kein Seelenleben zu besitzen. Zudem unterliegen sie für den Zuschauer des Mainstreampornos einem ganz eigenen Schönheitsideal: Vulominöser Penis, Vulva in Schnittbrötchen-Optik, wohlgeformte Körper.
Wir hingegen tragen alle Unsicherheiten unseres Lebens auch mit ins Bett. Wir fühlen uns zu dick, zu dünn, zu alt, zu klein, zu groß und fragen uns, ob wir attraktiv genug für den anderen sind. Gefällt, was wir da machen? Sind unsere Geschlechtsorgane passend, hübsch oder sauber genug? Wir haben Angst vor zu viel Nähe oder davor, verlassen zu werden.
Die meisten Frauen kennen die Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft.
Wie sehr das verunsichern kann, merken viele erst nach den Wechseljahren, wenn es mit der Fruchtbarkeit endgültig vorbei ist. Auch die Angst vor HIV, Chlamydien oder HPV dürfen wir nicht unterschätzen.
Pornodarsteller hingegen scheinen sich keine Gedanken um irgendetwas anderes als ihre Lust zu machen. Von Verhütung bekommen wir nur etwas mit, wenn ein Hormonpflaster sichtbar an einer Darstellerin klebt. Und das ist schon selten genug. Als in Kalifornien eine Kondompflicht zum Schutz der Darsteller gefordert wurde, konnte sich diese nicht durchsetzen. Angeblich liefen die Kunden Sturm. Es würde der Illusion des grenzenlosen Sex auch widersprechen, wenn der Schutz vor sexuell übertragbaren Infektionen sichtbar ins Bild rückte. Das führt natürlich auch dazu, dass wir im Porno keine der üblichen Kondom-Missgeschicke sehen. Packung nicht aufbekommen, falsch herum aufgelegt, abgerutscht. Aber wir, wir kennen das alle, oder?!
Haben wir es geschafft und wollen endlich loslegen, kommen auch schon die nächsten Hindernisse auf uns zu. Wo ist denn hier nur der richtige Eingang? Pornodarsteller irren sich nie und treffen zielsicher und vor allem reibungslos in die richtige Körperhöhle.
Wir hingegen stochern mit dem Penis erst einmal herum. „NEIN! Nicht da!“ Ups, zu tief gerutscht. Aber hier geht es rein. Nur wie? Die Venuslippen vorsichtig auseinanderziehen, vielleicht etwas Spucke oder Gleitmittel zur Hilfe und endlich drin. Aber nicht für lange. Abgerutscht. Also noch einmal. „Tiefer!“ „ Nein, nicht so tief, das tut weh!“ Ja, was denn nun? Oh nein, wo ist die Erektion geblieben? Im Porno können solche Szenen herausgeschnitten werden. Wir müssen jedoch damit leben.
Ok, es klappt alles gut und wir sind miteinander verbunden. Damit es nicht langweilig wird, wechseln wir natürlich zwischendurch die Stellung. Oder den Ort.
Im Porno ist das gar kein Problem. Da geht es einfach weiter. Bei uns zwickt es hier und da. „Oh, mein Rücken!“ Auch die Knie schmerzen schnell, wenn der Untergrund allzu hart ist. Wer schon einmal den Küchentisch als Sexmöbel umfunktioniert hat, weiß, wie unbequem dieser sein kann. Von der falschen Höhe gar nicht erst zu sprechen. Sex im Stehen gehört zum Standardrepertoire eines Pornodarstellers. Und läuft das bei Euch? Sex im Wasser? Im Auto? Sieht im Film auch wesentlich einfacher aus.
Für so manche Frau ist das eine Horrorvorstellung: Er kommt im Hochsommer nach einem langen und harten Tag auf dem Bau nach Hause. Er ist hungrig, durstig und verschwitzt. Er zerrt sie ins Schlafzimmer und präsentiert ihr stolz seine pralle Erektion. Jetzt soll sie loslegen und ihm auf der Stelle den Blow Job seines Lebens verpassen. Im Prinzip kein Problem, wäre da nicht die Sache mit der Hygiene. Das gilt natürlich auch umgekehrt, schließlich herrscht bei uns auch nicht immer Sommerfrische. Viele Männer und Frauen wünschen sich für Aktionen dieser Art zumindest einen kurzen Abstecher ins Bad.
Im Porno? Nö, da kann es immer gleich losgehen, egal was vorher passiert ist. Na klar, die Darsteller haben sich natürlich auch gewaschen. Nur sehen wir das nicht. Im wahren Liebesleben sollten wir nach einem Besuch der analen Gefilde auch erst einmal Hände, Schwanz oder Toy waschen, bevor es in die Vagina geht. Im Porno? Total egal. Waschen wird nicht gefilmt.
Im Porno finden wir alle Superlative, die wir uns vorstellen können:
Aber Pornodarsteller sind eben auch Schauspieler. Zudem wird gefaked, retouschiert, nachbearbeitet, geschnitten und chirurgisch verändert. Das sollten wir einfach nicht vergessen.
Und wir, wir haben uns. Wir brauchen keine Superlative. In jedem von uns stecken jede Menge Möglichkeiten, die wir nur entdecken müssen. Und genau dieses Entdecken und Erforschen gehört dazu. Wir lernen im Laufe der Zeit, unsere Lust und Erregung immer mehr zu genießen, hinauszuzögern und zu verstärken. Wir können alles haben, von ganz sanften und zarten Berührungen bis hin zu wildem und animalischem Stoßen. Wir können spirituelle Erfahrungen sammeln und gemeinsam lachen. Und gerade Lachen ist so wichtig für unser Wohlbefinden! Wir sind mehr als die Summe unserer Körperteile. Wir sind Persönlichkeiten mit ganz eigenen Gefühlen. Und diese Persönlichkeit drückt sich auch beim Sex aus. Sie bestimmt, wie wir mit uns, unserem Körper und unserem Gegenüber umgehen. Sie bestimmt auch, wie wir mit unseren Ecken und Kanten zurechtkommen. Wir lernen jeden Tag etwas Neues hinzu, wenn wir es zulassen.
Und so ist unser Sex trotz all der Irrungen und Wirrungen immer noch viel besser als der im Porno. Denn er ist persönlich, individuell und so unglaublich variationsreich. Es eben nicht nur um Fummeln, Reinstecken und Kommen. Es geht nicht um Perfektion oder darum, ein bestimmtes Drehbuch nachzuspielen. Wir brauchen keinen prallen Schwanz oder multiple Orgasmen, um Glück und Zufriedenheit zu erleben.
In meiner Praxis für Sexualtherapie in Hamburg rede ich mit Menschen über diese inneren Glaubenssätze und erlebe immer wieder, wie erleichtert Menschen sind.
Veröffentlicht auf orion.de