Ist der vaginale Orgasmus nur Übungssache?

Über den vaginalen Orgasmus gibt es viele Theorien. Aber welche stimmt eigentlich?

„Kann man einen vaginalen Orgasmus trainieren?“ Diese Überschrift in einer Frauenzeitschrift machte mich neugierig. Da habe ich wohl etwas nicht mitbekommen. Das wäre ja großartig und würde so manche Frau von einem unglaublichen Druck befreien! Immerhin ist das eines der meistgenannten Probleme in der Sexualberatung. Also nichts wie los mit dem Training! Vielleicht gibt es ja bald entsprechende Kurse im Fitnessstudio. Macht ja auch Spaß, möchte ich meinen. Training hört sich allerdings auch nach Arbeit und Schweiß an. Und es stellen sich Fragen:

•    Geht das überhaupt? 
•    Wie lange brauchen wir für dieses Training?
•    Steigert es nicht vielmehr den Frust, wenn es dann immer noch nicht klappt? 

Und sollte es tatsächlich möglich sein, könnte man es so deuten, dass die Frauen, die keinen vaginalen Orgasmus bekommen, nicht genug trainiert hätten. Schließlich scheint es ja so einfach zu sein. 

Aber wieso ist uns der vaginale Orgasmus eigentlich so wichtig? Frauen kommen doch auch auf andere Weise zum Höhepunkt und haben Spaß beim Sex. Und das ganz ohne Druck und ohne Penetration. 

Verschiedene Erklärungsansätze für ein Problem

Es gibt ganz unterschiedliche Erklärungsversuche für das Ausbleiben des vaginalen Orgasmus:

  1. Die einen reden von Blockaden im Kopf und von der unbewohnten Vagina. Nachvollziehbar, wenn wir uns anschauen, mit welchem Körperbild Mädchen aufwachsen: Die Vagina, also das Innere der Scheide, erhält nur wenig bis gar keine Beachtung. Erst mit Beginn der Blutungen wird uns bewusst, dass sich zwischen unseren Beinen noch mehr befindet als Lippen und Klitoris. Durch die Missachtung dieses Körperteils können sich auch die Druckrezeptoren nicht richtig entwickeln. 
    Oliver Sacks, der 2016 verstorbene großartige Neurologe und Bestsellerautor, hat aufgezeigt, wie schnell unser Gehirn Körperteile regelrecht vergisst. Wenn wir kein Gefühl darin haben, nehmen wir sie auch nicht mehr wahr. Sacks hat seine eigene Erfahrung dazu sehr bildlich in dem Buch „Der Tag, an dem mein Bein fortging“ dargestellt.
     
  2. Die anderen schieben dem Abstand der Klitoris zum Scheideneingang die Schuld zu. Auch nachvollziehbar, denn bei vielen Stellungen bleibt die Klitoris fast unberührt. Berühmt berüchtigt hingegen ist die Scherenstellung, bei der sich die Beine der zumeist weiblichen Beteiligten so gegeneinander schieben, dass die Klitoris gerieben wird. Damit kann frau ganz hervorragend kommen. ​Aber das ist ja kein vaginaler Orgasmus, also zählt das nicht.
    Marie Bonaparte, Psychoanalytikerin und irgendwie mit Napoleon verwandt, widmete sich Anfang des 20. Jahrhunderts wohl als Erste diesem Abstand zwischen Klitoris und Vagina. Heute würde man Marie vielleicht als asexuell bezeichnen, damals galt sie als frigide. Sie hielt diesen speziellen Abstand auch für die Ursache von Lustlosigkeit. Sie hatte also durchaus persönliche Gründe für ihre Forschungen. Letztendlich empfahl sie die chirurgische Verkürzung des Abstands zwischen Klitoris und Vagina. 

Ist der G-Punkt der innere Teil der Klitoris?

Irgendwie hängt das auch alles zusammen. Die Unkenntnis über den eigenen Körper, das verinnerlichte Verbot, Lust zu empfinden und die Lage der empfindsamsten Stellen. Der Gynäkologe und Sexualtherapeut Dr. Johann Sievers, der nun meint, Frauen könnten den vaginalen Orgasmus trainieren, verlegt den inneren Teil der Klitoris ganz einfach dahin, wo alle anderen den G-Punkt vermuten. Dass der G-Punkt in der Sexualwissenschaft umstritten ist, habe ich schon an anderer Stelle erwähnt. 

So richtig weiß keiner, was da los ist. Paraurethrale Drüsen, die an die männliche Prostata erinnern? Oder die Ausläufer des weitläufigen inneren Teils der Klitoris? Man weiß es letztendlich nicht. Erstaunlich, oder? Wir haben die Gravitationswellen entdeckt, wissen aber immer noch nicht, wie der weibliche Orgasmus funktioniert. Naja. Zurück zum G-Punkt. Und ja, ich weiß, das ist kein Punkt sondern ein ganzer Bereich. Aber das ist in meinen Augen nur Wortklauberei. Jedenfalls ist hier nicht jede Frau empfänglich für lustvolle Gefühle. 

Gezieltes Berühren weckt Lebensgeister

Und obwohl Sievers sagt, Klitoris und G-Punkt seien eine Einheit, unterscheidet er dennoch zwischen klitoral und vaginal. Schade. Er rät Frauen dazu, diesen inneren Teil der Klitoris gezielt zu stimulieren. Nach Oliver Sacks würde man damit einen bislang unbelebten Körperteil zum Leben erwecken. Er wird uns dadurch sozusagen überhaupt erst bewusst und die Druckrezeptoren werden aktiviert. 

In dieser Hinsicht ist das also eine gute Idee. Und nur wer weiß, was gut ist, kann das auch dem Partner mitteilen. Das ist ja nichts Neues. Bei der Selbstbefriedigung soll frau den G-Punkt miteinbeziehen, ob mit der Hand, einem Dildo oder Vibrator. Dazu müssen viele Frauen allerdings erst einmal ihre Scheu vor ihrer eigenen Vagina verlieren. Ob dieses Üben dann von Erfolg gekrönt ist, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Leider.

Wenn wir die Sichtweise verändern, verschwindet das vermeintliche Problem

​Das eigentliche Problem ist doch die Frage, warum wir überhaupt so ein Theater um den vaginalen Orgasmus machen. Denn mit dem Begriff vaginal ist ja vor allem die Art der Stimulation gemeint. Es geht gar nicht darum, dass eine Frau überhaupt kommt. Es geht darum, dass sie speziell dann kommt, wenn irgendetwas in ihre Vagina eingeführt wird, vorzugsweise ein Penis. Die wenigsten Frauen weinen sich die Augen aus dem Kopf, weil sie bei der Selbstbefriedigung mit dem Finger oder dem Dildo in ihrem Körperinneren keinen Orgasmus bekommen. Denn dafür gibt es ja immer noch viele andere sehr beliebte Methoden. Natürlich dreht sich das ganze Problem um den Geschlechtsverkehr. Es geht nur darum, während der Vereinigung von Penis und Vagina kommen zu können. Der vaginale Orgasmus ist somit ein ausgesprochen heterosexuelles Problem. Homosexuelle Paare schlagen sich damit nicht herum.

Der vaginale Orgasmus ist nicht das Maß aller Dinge

Frauen sollen also gefälligst dort kommen, wo es Männern am meisten Spaß macht. Das wäre auch am einfachsten. Diese männlich orientierte Erwartungshaltung kommt von außen. Penetration führt zur Fortpflanzung. Sie scheint damit Sinn und Zweck des Ganzen zu sein, also muss sie auch das größtmögliche Vergnügen bereiten. Aber so ist das eben nicht. Und die männliche Lust ist nicht der Maßstab für die weibliche. Es gibt noch so viel zu entdecken jenseits der Penetration. Wir sollten diese defizitäre Sichtweise auf die weibliche Sexualität endlich hinter uns lassen. 

Regelrecht gefährlich finde ich es, wenn Wissenschaftler wie Stuart Brody von der Universität West-Schottland auch heute noch behaupten, der vaginale Orgasmus sei der beste. Frauen, die ihn bekämen, „seien psychologisch gereifter und gesünder“. Damit wird ja ausgesagt, dass mit allen Frauen, die ihn nicht bekommen, etwas nicht in Ordnung sei. Aber das stimmt nicht! Frauen sind nun mal einfach unterschiedlich. Und sie kommen auch. Nur anders. … Also viel Spaß! ☺

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